1.8.2018 Da habe ich wohl nicht mit der Wirkung der Gezeiten gerechnet

Die Abfahrt von Brest aus zur 2-Tagesreise nach Guernsey sollte nach Berechnung von Jörg, der mir bei diesen Fragen stets ein treffsicherer Berater war, etwa um 10.00 Uhr ab Durchfahrt der Außenmole erfolgen. Ich stand also um 8.00 Uhr auf, machte mir ein Frühstück und machte das Schiff klar zum Auslaufen. Zunächst jedoch lief ich die Tankstelle an, um für den Fall von zu geringem Wind das Ziel mit Motorantrieb zu erreichen. Es wollte der Zufall, dass zu diesem Zeitpunkt ein riesiges britisches Motorboot einen der Tankplätze belegte. Was ich zunächst nicht sah, als ich an der zweiten Stelle anlegte war, dass bereits beide Tankschläuche für Diesel für dieses Schiff im Einsatz waren und in ihren Dimensionen eigentlich eher für Sportboote und nicht für Flugzeugträger gedacht sind. Der Tankvorgang sollte also etwa eine Stunde benötigen, bis dieser Gigant seine Tanks gefüllt hatte. Mein Zeitslot war also dahin. Um meine etwa 120 Liter einzufüllen, benötigte ich ca. 15 Minuten.

Bei der Ausfahrt entlang der Aussenmole von Brest zeigt sich der Stolz der Franzosen: Die Force de Frappe.

Danach jagte ich zunächst dem Zeitverlust hinterher. Es war brauchbarer Wind vorhanden und so fuhr ich in einem starken Regenschauer bei hoher Welle und starkem achterlichen Wind mit Motorunterstützung bis kurz vor das Cap westlich von Brest, um dann ein unglaubliches Naturschauspiel zu erleben. Die Odd@Sea beschleunigte mit der Annäherung an das Cap auf bis über 9 Knoten in brodelnder, aber insgesamt sehr glatter See ohne jede Welle. Es setzten sehr kurze, aber heftige seitliche Schläge ein, da das Wasser offensichtlich sehr turbulent unter dem Schiff durchlief. Man musste schon wachsam sein, dass es nicht querschlagen würde, da die Richtungsänderungen nicht unbeträchtlich waren und man nie Gewiss sein konnte, was in der nächsten Sekunde passiert. Der Autopilot kam jedoch damit recht gut zurecht. In der Absicht, den anfänglichen Zeitverlust wieder wettzumachen zu wollen, ließ ich den Motor eigentlich viel zu lange mitlaufen, obwohl ich den Verlust bereits nach einer Stunde kompensiert hatte. Dieses Schauspiel hatte offensichtlich meine analytischen Sinne völlig aus dem Tritt gebracht. Mit mir fuhr eine ganze Armada von Sportbooten um das Kap, deren Skipper sicherlich das gleiche Grinsen auf dem Gesicht trugen wie ich während dieses Erlebnisses.

Nachdem ich bemerkt hatte, dass die Strömung kippte und die Fahrt wieder abnahm, fuhr ich noch einige Stunden unter Vollbesegelung und jetzt auch komfortabler Seeoberfläche mit einem Hochgefühl in Rauschefahrt mit anfänglich 9, später dann 7 und als der Gegenstrom voll einsetzte mit 5 bis 6 Knoten. Das nenne ich dann Genusssegeln vom Feinsten, so, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Die Odd@Sea kann also auch schnell.

Leider folgt jeder Flut nach 6 Stunden die Ebbe. Das wurde dann eher zu einem Alptraum, denn mit Beginn der Nacht schlief dann auch noch der Wind vollständig ein. Das Motorgeräusch wurde ab dann zu meinem ständigen Begleiter für den Rest der Fahrt bis in das Königreich England, nach Saint Peter Port auf der Insel Guersey. Es war die Nacht mit dem außergewöhnlich hellen und großen Mond. Sehr beeindruckend. Leider war während der Mondfinsternis der Himmel über dem englischen Kanal bedeckt. Mich deprimierte der Fakt, dass ich bei immer stärker werdender Gegenströmung nur noch mit ca. 3 Knoten vorankam und mir ausrechnen konnte, dass der Tankinhalt für meine Reise knapp werden könnte. Die Ratio hätte mir sagen müssen, dass nach der Ebbe auch wieder die Flut kommt und der Verlust wieder verringert wird. Da es sich aber dabei um einen hyperbolischen Zusammenhang handelt, ich muss ja zumindest einmal den Akademiker heraushängen lassen, ist ein gleich großer Strom entgegen in Bezug auf die Fahrtzeit sehr viel wirksamer als mit der Fahrtrichtung. Diese Erfahrung sitzt mir immer noch in den Gebeinen.

Am Morgen war ich deshalb noch weit vor Guersey und rechnete mir aus, was diese Erfahrung für die zweite Teilstrecke bis nach Boulogne sur Mer und damit einer weiteren Teilstrecke mit starkem und lange anhaltendem Gegenstrom bedeuten würde. Ich entschied mich für das Lernen aus der Erfahrung und lief die britische Kanalinsel Guernsey an, obwohl ich keine entsprechende Gastlandflagge dabei habe. Das letzte Teilstück bis zur Insel war dann reiner Kampf gegen eine hohe und absolut chaotische Welle bei starkem achterlichen Wind. Das ist insofern problematisch, als das Schiff in den Wellen zum Ausbrechen neigt und die Segel ständig einfallen. Der Schmetterling als Segelstellung erwies sich dabei als unpraktikabel, da die Genua bei mit einem Bullenstander gesichertem Großsegel dauernd einfiel. Nur das Großsegel alleine führte häufiger zu einer unlösbaren Trimmanforderung an meinen Autopiloten. Einmal mehr erwies sich die Genua alleine als beste Lösung. Große Fahrt konnte wegen der hohen Wellen nicht aufkommen, was meine Stimmung nach dieser Nacht nicht eben aufhellte.

Dazu kam, dass meine Rollvorrichtung für das Vorsegel wieder einmal wegen Seilsalat auf und unter der Trommel klemmte und ich nur bei langsamer Fahrt mit nach vorne flatternder Genua diese auf die andere Seite bringen konnte. Ich brauchte also vor der Einfahrt in den Hafen ein ruhiges Plätzchen, um die Rollvorrichtung zu reparieren. Mit einer gewissen Vorahnung, dass dieses schwer werden könnte fuhr ich bei 25 Knoten Wind in den ungeschützten Vorhafen von Saint Peter Port ein und versuchte dort mein Glück, nachdem ein Versuch neben dem Hafen in einer Bucht fehlschlug. Doch auch im Hafen war der Wind so stark, dass mich die Abtrift ständig in das Feld an Murings liegender Boote hineintrieb. Jetzt hätte eine weitere Hand an Bord gute Dienste geleistet. Egal, was nicht ist, muss durch Intelligenz und Mut kompensiert werden. Ich fuhr also wieder ins offene Wasser, da ich dort zumindest keinen Flurschaden anrichten konnte, begab mich in den Bugkorb und entwirrte erfolgreich die Reffleine, jedoch unter großem Krafteinsatz, aber hier ohne jeden Zeitdruck.

Mein Anruf über Funk im Hafen führte zu mehreren, keineswegs sprachlichen Missverständnissen mit meiner geringen Tiefenanforderung. Um sicher zu stellen, dass auch bei extremen Niedrigwasser im Hafen stets eine Minimaltiefe vorhanden ist, wird die Tiefe hier in der Einfahrt zum Hafenbecken mit einer Betonschwelle reduziert. Wer darüber hinwegkommt, der liegt im Hafen immer sicher. Bei Niedrigwasser liegt diese Schwelle trocken. Das Wasser war abfließend und angesichts der Größe meines Schiffes stellte man die Einfahrtampel auf rot. Erst eine längere Konversation mit dem Hafenmeister konnte klären, dass ich in jedem Fall mit hochgenommenem Schwert und Ruder über die Schwelle komme. Zuvor musste ich jedoch noch ein paar Runden im Vorhafen drehen, denn der Wind nahm nicht ab, sondern im Gegenteil noch zu und ich trieb beim Warten und Vorbereiten des Schiffs auf das Festmachen (Fender raus, Leinen klarmachen) wieder durch das Bojenfeld. Endlich konnte ich einfahren und ein kleines Motorboot sollte mir den Weg zu meinem Liegeplatz weisen. Hier musste ich erkennen, dass es für die Odd@Sea an der vorgesehen Stelle viel zu eng würde. Ich brach die Anfahrt deshalb ab und fuhr rückwärts aus dieser engen Zufahrt wieder in den Vorhafen hinaus. Eine erneute Abstimmung mit dem sehr freundlichen Hafenmeister ließ mich hoffen, dass ein nächster Versuch zu einer anderen Position erfolgreicher werden würde. Gesagt, getan und das Schiff in ein Päckchen zu einer weiteren deutschen Segelyacht gelegt. Das war es dann. Dass im Laufe des Nachmittags weitere Schiffe in die Anlage einfuhren und an meinem Liegeplatz schließlich insgesamt 5 große Yachten nebeneinander lagen, machte die Außergewöhnlichkeit dieser Marina noch klarer. Letztlich blieben noch geschätzte 4 Meter Durchfahrtbreite in dieser Steganlage übrig. Sollte also einer auf die Idee kommen von hinten den Hafen verlassen zu wollen, dann hatte er nur Grund zum Lachen.

Ansonsten konnte man hier merken, dass man nicht mehr in der EU ist. Das britische Pfund als Währung, gepfefferte Roaminggebühren beim Telefonieren, kein wirklich funktionierendes WiFi, keine TLE-Verbindung… Der nächste Tag war wenig geeignet zum Fahren, da zu starker Wind herrschte und ich machte ein Tag Ruhe- und dabei in erster Linie Schlafpause. Catering hatte ich jedenfalls genug an Bord, was mir einen längeren Landgang ersparte. Der Linksverkehr brachte mich übrigens fast um, als ich fälschlicherweise die Uferpromenade entlang ging, um das Hafenbüro aufzusuchen, da ich diese Besonderheit beim Straßen überqueren nicht im Kopf hatte. Das Büro war eigentlich in wenigen Schritten direkt am Hafenbecken zu finden. Das zum Thema Schlaftrunkenheit!

Am Tag darauf stand noch eine Zweitagesstecke nach Dunkerque (Dünkirchen) an, die ich ebenfalls nicht in Gänze absolvierte, sondern nur bis Boulonge sur Mer, etwa 25 km vor der engsten Stelle der Straße von Dover. Hier war zunächst das berüchtigte Cap Hague zu umfahren, welches durch seine außerordentliche Tidenwirkung bekannt ist. Das Cap liegt etwa 20 km östlich von Guernsey. Bei der Annäherung an das Cap wiederholte sich das Schauspiel von zwei Tagen zuvor: Die Flut schleuderte mich geradezu um die Ecke und wegen der hohen Geschwindigkeit von sage und schreibe bis zu maximal 13 Knoten (siehe Foto, die Zahl 13 auf dem Display habe ich trotz vieler Aufnahmen nicht erwischt) noch weit darüber hinaus auf die Strecke. Das Meer „kochte“ an dieser Stelle noch deutlich heftiger als am vorletzten Tag hinter Brest. Allerdings nahm dann mit zunehmendem Abstand zum Cap sowohl die Gegenströmung wieder zu als auch der Wind wieder soweit ab, dass ein Segelsetzen nur zusätzlichen Fahrtwiderstand verursacht hätte. Die anschließende Windstille hielt bis kurz vor Boulogne sur Mer an. Das änderte sich nur insofern, dass kurz vor dem Ziel wieder ein bis zu 20 Knoten starker achterlicher Wind einsetzte und mit diesem sehr rasch extrem hoch steigende, chaotische Wellen. Nichts für schwache Mägen. Ich nutzte diesen Wind natürlich wieder mit der Genua. Die Einfahrt in den Hafen war für mich eine wirkliche Erlösung, denn ich war extrem kaputt nach diesem Törn. Es gibt nämlich nichts wirklich Schlimmeres für einen Segler wie mich, wenn er bei fast voller Motorleistung stundenlang nur wenig über 3 Knoten schnell fahren kann, die Zeit stillzustehen scheint und der Sprit immer knapper wird. Es ist also nicht die körperliche, sondern die viel wirksamere mentale Kraft, die zuerst an ihr Ende kommt.

So sieht das Cap Hague auf dem Navigator aus. Rechts das Cap, links die kleine britische Kanalinsel Alderney. Die Odd@Sea (POS) bei der Anfahrt auf diese Meeresenge, in der auch einige andere Schiffe die Strömung nutzen.
Auf dem Navigator zeigt sich die momentane Geschwindigeit über Grund (SOG) in km/h
… und rechts oben auf dem Fahrtinstrument in Knoten. Trotz vieler Fotoschüsse ist es mir leider nicht gelungen, die „13“ zu erwischen, die mehrfach, aber nur kurzzeitig zu sehen war. Das ist die Geschwindigkeit, die ich mit der Odd@Sea bisher maximal auf der Donau bei Regensburg erreicht hatte.
Das war ein Versehen meinerseits! Diese Kanalfähre querte mein Fahrwasser in den frühen Morgenstunden hinter mir in kurzem Abstand. Ich hatte ein Nickerchen unter Deck gemacht und als ich wieder einmal nach dem Rechten schaute, sah ich sie. Der Skipper gab kein Ton von sich, hatte mich also entweder optisch oder per AIS wahrgenommen oder keinen mögliche Konfliktsituation erkannt.

Was lerne ich aus diesen beiden Tagen Seefahrt? An Tidenküsten fahre ich, unabhängig von den Windkonditionen, in Zukunft nur noch Eintagesfahrten von maximal 7 Stunden Länge im richtigen Zeitbereich mit stehendem Wasser oder mit Rückenströmung. Mehrtagesfahrten verbieten sich, da alle 6 Stunden definitiv die Natur nicht beim Vorankommen hilft. Das bedeutet für meine weitere Fahrtplanung, dass ich meine noch verfügbare Zeitreserve für den Erhalt eines stabilen Nervenköstüms einsetze. Wenn es dann nicht reicht, dann ist es mir auch recht. Als zweite Lehre habe ich mir vorgenommen, dass ich zukünftig nicht mehr nur den direkten Kurs vom Ausgangspunkt zum Ziel strikt einhalte, um die Fahrtstrecke zu minimieren, sondern bei achterlichem Wind auch vor dem Wind leicht kreuze, damit zwar die Strecke verlängere, aber durch einen besseren und stabileren Segelstand eine höhere Geschwindigkeit fahren kann. Das muß dabei nicht immer insgesamt der schnellste Weg sein, sondern vor allen Dingen die Nerven schonen.

Am Abend ist immer noch einmal die Wirkung der Ebbe zu bestaunen. Hier im Hafen von Boulogne sur Mer beträgt die Tiede etwa 8 Meter. Die Masten der Segelschiffe überragen die Molen nur um wenige Meter, das Wasser im Hafen ist trotz Wind ölig glatt. Nach sechs Stunden steht das Wasserniveau wieder an der noch gerade noch zu erkennenden Hell-Dunkel-Grenze im oberen Bereich der Mole und die Schiffe schauen wieder darüber.

2 Gedanken zu „1.8.2018 Da habe ich wohl nicht mit der Wirkung der Gezeiten gerechnet“

  1. Ja, das kann ich hier mal vor Allen bestätigen mit den 13,2 kn SOG und auch beweisen auf der AIS Karte, leider bekomme ich das Foto hier nicht eingestellt. Du bekommst dann eh meine gesammelten Bilder, Jürgen . Bin stolz auf dich wie gelassen du das alles „Meister“st.
    LG, Jörg

  2. Schone um den Blogspot zullen lesen.
    Wir haben die wonderschone Abend gestern genossen und liegen jetze in der Osterschelde auf das Anker.
    Gute fahrt und vielleicht sehen Wir uns ieder aufs Wasser oder ???

Schreibe einen Kommentar zu Jörg Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert