5.10.2019 Das Wetterfenster hat gehalten, was es versprochen hat

Die Abfahrt nach Dieppe erfolgte noch vor dem Sonnenaufgang, denn die komplizierten, von der Tide abhängigen Strömungen im Kanal von Dover sollten mich möglichst lange unterstützen, zumal der schwache Wind zwischen 10 und später nur 5 Knoten nicht gerade sehr hilfreich sein sollte. Um 6:00 Uhr ging also der Tag für mich los. Eine eigentlich ungesunde Zeit, wenn man die segensreiche Wirkung der Natur unterschätzt. Die kann nämlich eine morgendliche Verstimmung durchaus in eine Hochstimmung verwandeln, wie sich heute einmal mehr zeigen sollte.

Nach den Stürmen der Vortage, die noch in der Nacht wüteten, waren die Wellen auf dem Meer bereits erstaunlich schnell auf erträgliche Maße abgeklungen. Das war auch so prognostiziert. Was mich allerdings geradezu sehr schnell aus meiner schläfrigen Stimmung an diesem eigentlich unkomplizierten Tag brachte, war Folgendes: Als ich den ruhigen Vorhafen von Boulogne dicht an der backbordseitigen Mole verließ, um dann auf dem kürzesten Weg zum etwa 90 km entfernten Ziel Dieppe zu kommen, war ich sofort hellwach, denn was mich hier erwartete hatte ich noch nie erlebt. Entlang der gesamten, mehrere Kilometer langen und sehr hohen Steinmole gab es eine immense weiße Brandung, teilweise bis über die Mole hinweg. Was ich zunächst nicht erkannte war, dass diese Brandung eine enorme Welle entgegen die vom Meer kommende, eher harmlose Welle reflektierte und bis zu einem Abstand von mindestens einem Kilometer ein Tohuwabou an Effekten aus der Überlagerung von verschiedenen Wellensystemen erzeugte. Praktisch bedeutet das, dass sich punktuell sehr hohe, aber kleinflächige Wellenberge wie aus dem Nichts bildeten.

Das Meer kochte also gerade dort, wo ich eigentlich Zeit sparen wollte. Es war harte manuelle Steuerarbeit, so schnell wie möglich und mit Vollgas Abstand zur Mole zu bekommen. Ein Querschlagen zu den zum Teil über 2 Meter hohen Wellen hätte sehr unerfreuliche Wirkungen verursacht. Als ich etwa einen Kilometer Abstand von der Mole erreicht hatte, war der Spuk zu Ende und es ging eher gemütlich weiter. Gemütlich deshalb, da es eine alte Dünung gab, die sich dem Kräuselkrepp der Schwachwindwelle mit einer Wellenlänge von ca. 7 Sekunden überlagerte. Wer ein natürliches Einschlafmittel benötigt, dem kann ich diese Situation sehr empfehlen. Man empfindet das weiche Auf und Ab in dieser Form wie das Einschlafen in einer Wiege. Da ansonsten die Fahrt bis zum Ziel zwar sehr schön, aber eher langweilig war, habe ich mich auch mehrmals für einige Zeit zum Schlafen unter Deck hingelegt, zumal absolut nichts los war auf dem Meer und die Strecke auch nicht sehr kompliziert. Gott sei Dank, hatte ich die Segel, wie bei derartigen Wetterprognosen typisch, nicht bereits im Vorhafen gesetzt, sondern zunächst abgewartet, was da draußen so alles passiert.

Eine Bemerkung muss ich noch machen als Erfahrung aus diesem Tag auf See: Das Wohlgefühl auf See hängt in großem Maße von der Körpertemperatur ab. Auch heute war es etwa so kalt, wie in den letzten Fahrtagen. Ich hatte aber einfach einmal und zum ersten Mal in diesem Jahr mein komplettes Ölzeug über meine Standardkleidung angezogen. Mir war das erste Mal wirklich warm am Steuer und das Unwohlsein von den Vortagen war plötzlich Geschichte.

Wie erwartet kam der Lohn für mein frühes Aufstehen in Form einer langanhaltenden vorteilhaften Strömung. Unter allen Segeln sowie einer geringen Motorunterstützung konnte ich dem Schwachwind dann einige zusätzliche Knoten abhandeln und war dann bereits nur noch etwa 15 km vor Dieppe, als die Gegenströmung einsetzte. Da zugleich der Wind auf unter 5 Knoten abnahm, holte ich die Segel ein und kam dann mit der Maschine ungewöhnlich früh um 16:30 Uhr im Zielhafen Dieppe bei herrlichen Sonnenschein an.

Auf den ersten Blick scheint Dieppe die erste wirklich schöne Kleinstadt zu sein, die ich in diesem Teil Frankreichs angelaufen bin. Da morgen an Segeln wetterbedingt überhaupt nicht zu denken ist, werde ich hier morgen eine ausgiebige Stadtbegehung machen, zumal dann Sonntag ist. Das nächste Wetterfenster wir für übermorgen angesagt. Das wäre dann für mich die Fahrt nach Le Havre.

Eine eher schlechte Nachricht habe ich heute auch noch: Bei der Fahrt heute nahm die Odd@Sea erneut Salzwasser auf. Es war mit etwa 2 cm nicht sehr viel, aber insofern bedenklich, da sie bisher stets absolut trocken gelaufen ist. Wie auch immer, ich muss die Ursache unbedingt schnellstens finden, um mein sicheres Gefühl und mein Vertrauen in mein Schiff nicht zu verlieren.

Morgen werde ich mich diesem Problem ausgiebig widmen. Der Hafen ist hier sehr gut geschützt vor dem zu erwartenden Starkwind.

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